06.05.2014 | Landesverband der Musikschulen Thüringen e.V. "Fasziniert und infizert von Musikschule"Ulrich Rademacher, Bundesvorsitzender des VdM, über aktuelle Herausforderungen für die MusikschulenBei den Erfurter Bildungstagen des Landesverband der Thüringer Musikschulen sprach Ulrich Rademacher, Bundesvorsitzender des VdM, über aktuelle Herausforderungen für die Musikschulen.
Lesen Sie hier seine Rede:
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Prof. Deufel, sehr geehrter Herr Dr. Ungewiss, liebe Friedrun Vollmer und liebe Kolleginnen und Kollegen,
![]() Prof. Ulrich Rademacher zur Eröffnungsfeier der Erfurter Bildungstage im Rathaussaal der Stadt Erfurt das letzte Mal haben wir uns in Point Alpha gesehen, ich war mit dem Motorrad da und habe über meine Erfahrung mit der alten Grenze, die Begeisterung über die Öffnung und Ihre schöne Initiative gesprochen, gerade dort ein Fest der Begegnung mit Musik zu feiern. Heute stehe ich hier und soll, so lautet mein Auftrag, mit dafür sorgen, dass Sie sich alle am Ende dieser Bildungstage voller Energie und Begeisterung wieder in Ihre Musikschularbeit stürzen. Gut!
Musikalische Bildung als Grundausstattung für mündige Bürger
Als gemeinsame Kraftquelle brauchen wir eine gemeinsame Wahrnehmung von dem, was wir können, was wir wollen und was die Gesellschaft von uns fordert. Musikalische Bildung gehört zur Grundausstattung für sprachfähige, kreative und mündige Bürger, für starke und sensible Führungskräfte! Grundausstattung aber bedeutet konsequenterweise auch: Grundrecht! Also gibt es eine öffentliche Verantwortung sowohl für die Qualität von musikalischer Bildung als auch für einen breiten und leichten Zugang dorthin. Musikpädagogik braucht dafür Erfolg, Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung! Wir wissen ja, die Frage an Musikpädagogen „…. und was machen Sie beruflich?“ ist noch nicht ganz ausgestorben. Ich verspreche Ihnen aber: Wir als VdM kämpfen in Bund und Ländern Seite an Seite, wenn es um faire Rahmenbedingungen für unsere gesellschaftlich so entscheidend wichtige Aufgabe geht!
Angenommen, wir sind fasziniert und infiziert von Musikschule, so heißt das: Wir wollen uns selbst, unseren Trägern und der Gesellschaft zeigen, dass unsere knapp 1.000 Musikschulen innovativ, ökonomisch, kreativ, pädagogisch, strukturell und qualitativ gut aufgestellt sind.
Klare Ansage an die Politik
Wir sprechen oft von unserem Auftrag, den wir am liebsten in den Fels des Grundgesetzes gemeißelt sähen. In Wirklichkeit aber ist es ein „gefühlter“, ein „gewünschter“ Auftrag - trotz aller fantasievollen Herleitungen aus Grundgesetz und Landesgesetzgebungen. Wir müssen unseren Auftrag der Politik immer wieder neu in den Mund legen, um ihn dann zu bekommen: In den Mund legen, plausibel machen und beweisen, dass wir es können! Die Politik braucht von uns eine klare Ansage, was sie wollen soll. Das ist unbequemer aber realistischer als „Kultur als Staatsziel“ im Grundgesetz mit der Illusion, alles sei dann geregelt. Denn selbst, wenn das so wäre, stünde noch lange nicht fest, dass wir als Musikschulen hieraus einen klaren Auftrag bekämen.
Wir müssen es schaffen, unserer kontinuierlichen Arbeit, also dem, was wir mit Herz und Verstand tagtäglich tun, den Glanz und die Attraktivität von Projekten zu verleihen. Begriffe wie „Kernaufgabe“ sind oft blass gegen die Hochglanzbroschüren kurzlebiger Projekte. Ausdrücklich möchte ich in diesem Zusammenhang aber sagen, dass unsere Bündnisse für Bildung über einen Gesamtzeitraum von fünf Jahren als langfristiges Programm angelegt sind und damit ein lang erwarteter richtiger Schritt in Richtung Nachhaltigkeit.
Kulturelle Vielfalt als Chance
Inklusion ist als umfassende Aufgabenstellung anzusehen und meint nicht nur die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, sondern auch die Nutzung kultureller Vielfalt als Chance und als Reichtum und schließlich, nach dem Motto „Musik kennt kein Alter“, die Arbeit mit Menschen des 3. und 4. Lebensabschnittes. Ein faszinierendes neues Arbeitsfeld!
![]() Interessierte Zuhörer: Die Besucher der Bildungstage folgen der Rede von Prof. Ulrich Rademacher Angesichts von Schulzeitverdichtung und - in manchen Bundesländern – Schulzeitverkürzung - brauchen wir eine Allianz für Freizeit und kulturelle Bildung mit Sportverbänden, Kirchen und anderen „Pisa-Verlierern“. Dabei geht es uns nicht, wenigsten nicht in erster Linie, um eine Abschaffung von G8, sondern um eine Schaffung von Freiräumen und Freizeiten für musikalische Bildung in den Schulen. Dahin sind wir mittlerweile auf einem guten Weg mit der KMK.
Nachhaltigkeit statt politischer Selbstverwirklichung
Wir wollen Wertschätzung für musikalische Bildung an Investitionen in Nachhaltigkeit erkennen, an Investitionen in Strukturen, in angestellte Lehrkräfte und nicht an kurzlebigen Selbstverwirklichungsprojekten von Politikern, die nur in Wahlperioden denken und handeln.
Warum verdienen wir und nicht andere öffentliches Geld für unsere Arbeit? Sicherlich nicht, weil bei uns alle Lehrkräfte gut und anderswo schlecht sind. Dies anzunehmen wäre unfair und dumm zugleich. Guten (Einzel-) Unterricht könne auch freie Musikpädagogen, wie sie ja mit dem Bekenntnis zur Qualität im DTKV organisiert sind – und das ohne einen Cent öffentliche Unterstützung. Unser Alleinstellungsmerkmal liegt irgendwo anders. Das sichtbar zu machen ist eine anspruchsvolle Aufgabe für Musikschulleitungen und – wenigstens - die angestellten Lehrkräfte. Sie merken, hier rede ich einmal nicht der Politik ins Gewissen, sondern uns Musikschulleuten!
Musikschule ist mehr als eine "Lehrerdatei"
Eine Musikschule in unserem Sinne ist eine Schule und keine „Lehrerdatei mit kommunalem Vermittlungsservice“. Eine „richtige“ Musikschule fängt da an, wo der Einzelunterricht aufhört, oder fängt schon an, ehe der Unterricht beginnt – oder noch anders gesagt: Eine gute Musikschule zeichnet sich dadurch aus, was sie außer gutem Instrumental- und Vokalunterricht noch zu bieten hat: Nicht nur die „Zufalls“-Kompetenz einzelner guter Lehrkräfte, sondern die verlässliche Kompetenz eines Teams, das Schüler und Eltern informiert, Schnuppern ermöglicht, neugierig macht, das begeistert, beobachtet, erfolgversprechende Gruppen zusammenstellt, Leistungen überprüft, Erfolg ermöglicht, Zusammenspiel fördert, Wechsel von Lehrer oder Instrument begleitet, besonders Schwache oder auch besonders Starke besonders fördert, ermuntert, bestätigt, tröstet, das Vielfalt von Stilen und Kulturen fördert, Inklusion ermöglicht, Partner in der kommunalen Bildungslandschaft findet, überzeugt und in verlässlichen Kooperationsstrukturen pflegt.
Denn: -Nur wir können Musikschule von vor der Geburt bis nach dem Einsetzen von Demenz, -nur wir können uns dem Anspruch „Musik für alle“ genauso stellen wie dem Anspruch „alle Kompetenz für ein Talent“, -wir können Musik vom Mittelalter bis zur Uraufführung eines Werkes, dessen Tinte noch nass ist, -wir können von Klassik bis Pop, -wir können von Heimat bis Ethno, …und das mit Lehrkräften, die nicht alle alles können müssen, weil die Schule ja über diejenigen verfügt, die das können, was die eine oder der andere nicht beherrscht. Fühlt sich das in der eigenen Kommune auch so an? Hallo, Musikschul-Leitungen! Hier ist Führung gefragt. „Kompetenzmanagement“ heißt nicht, dass jeder das macht was er will, was bequem ist, und der Rest fällt unter den Tisch, bzw. wird nicht angeboten! Führung heißt auch: Sehen, was gebraucht wird, sehen, was unsere besondere Wahrnehmung und Wertschätzung braucht, ob in der EMP oder Begabtenförderung. Und sehen, wo wir fordern und fördern müssen. Dies alles macht gute Musikschularbeit aus und ist mit unvernetzten musikpädagogischen Einzelgängern nicht zu leisten, egal wie gut sie sind. Auch die qualifizierteste private Nachhilfe ersetzt ja nicht eine vollständige Schule, die vernetzte Kompetenz einer exzellenten Klinik wird kaum durch ein paar niedergelassene Ärzte gewährleistet werden können.
Kommunale Kompetenzzentren
Musikschulen teilen ihre Verantwortung für musikalische Bildung mit Partnern in der kommunalen Bildungslandschaft, schmieden Bündnisse für Bildung mit Schulen, Kirchen, soziokulturellen Zentren, Theatern, Bürgerhäusern, Kindertagesstätten. Wir sind die kommunalen Kompetenzzentren für musikalische Bildung, die Musikschulleitungen sind die „Ober-Netzwerker“ vor Ort, sozusagen die „Generalmusikpädagogikdirektoren“. Wenn wir Musikschule so sehen- und das sollten wir – verbietet es sich, innerhalb von Musikschule von Haupt- und Nebensache, von Kern und Schale zu sprechen. Eine Hauptsache macht eben immer alles andere zur Nebensache, ein erklärter Kern alles andere zur Schale. Wir sind nur dann unersetzlich, unverwechselbar und alleinstehend, wenn wir vollständig sind!
Jeder neu geschaffene Zugang zur Musikschule ist untrennbar verbunden mit der Verantwortung für die Qualität der anschließenden Förderung, ob in der Gruppe, ob individuell, in Chor, Band oder Orchester, oder der Vorbereitung auf ein Musikstudium. Unser größtes Kapital sind gute, authentische, motivierte, fortgebildete und vernetzte Lehrkräfte, die – jeder und jede in ganz persönlicher Mischung - als Lehrende und Künstlerinnen begeistern, die als Vorbilder und als Experten glaubwürdig sind. Und diese Menschen wollen gepflegt, gefordert und wertgeschätzt werden.
Schulkooperationen: eine wichtige Chance
Wir öffentlichen Musikschulen sind für diese alten und neuen Aufgaben bestens gerüstet und bis in die Haar- und Fingerspitzen motiviert. Aber wir brauchen dafür einen langen Atem, finanzielle Sicherheit und Zugänge, Zugänge und noch mal Zugänge, wir brauchen Zeiten und Räume, vor allem in Kindergärten und Schulen. Nicht nur nachmittags, sondern auf Augenhöhe mit Sprachen und Naturwissenschaften auch vormittags. Die Mathe-Stunde nach Musik (oder Sport) ist erfahrungsgemäß erfolgreicher, als diejenige nach stundenlanger einseitig kognitiver Herausforderung.
Schulen und Musikschulen hat eben einen Bildungsauftrag und nicht nur einen Aus-Bildungsauftrag. Menschen möglichst früh zu konditionieren für ein geschmeidiges Funktionieren in global gesteuerten Wirtschaftsabläufen ist inhuman und verspielt Chancen! Gerade im rohstoffarmen Deutschland.
Eindruck ohne Audruck
Ob folgender Gedanke eher zum Thema Bildung oder zum Thema Gesundheit gehört, mögen Sie selbst entscheiden: Durch eine nie gekannte Reizüberflutung, auf die die Evolution in ihrer Langsamkeit den Menschen noch keine gesunde Antwort geben konnte, sind wir alle - Kinder aber besonders - in Gefahr, abzustumpfen. So viel Reiz durch Musik- und Actionvideos, durch Computerspiele mit ihren virtuellen Welten, so viel Reiz und Eindruck braucht zum Ausgleich Ausdruck, braucht Ventile um Luft abzulassen, braucht Singen, Tanzen und Trommeln. Nur dann bleiben wir im Fluss, nur dann gelingt „Flow“. Eindruck ohne Ausdruck aber produziert emotionale Staus oder – wenn Sie so wollen – emotionale Verstopfung: höchst ungesund mit entsprechenden Folgen für Individuen und Gesellschaft. Über die Musik selbst, die, wie Beethoven meinte, höhere Weisheit als alle Philosophie und Religion ist, die, wie ich meine, uns die Welt und die Seele spiegelt, die uns mit allen Sinnen ergreift, muss ich Ihnen heute nichts erklären.
"Wir brauchen eine Schule der Emotionen"
Meinen letzten Exkurs möchte ich der Bedeutung der Emotionen, wenn Sie so wollen, der emotionalen Kompetenz widmen, also einmal nicht der Konzentrationsfähigkeit, den besseren Leistungen in Mathe, der sozialen Kompetenz, dem langen Atem und so weiter, sondern einfach der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung. Denn mehr, als wir uns eingestehen, wird unser Handeln vom Gefühl beeinflusst.
Zum Beispiel Autokauf: Der Kopf sagt uns: Verbrauch, Kosten pro Monat, Stauraum, Werterhalt etc., alles klug und rational. Wenn wir aber ehrlich sind, entscheidet, ohne dass wir es uns eingestehen, am Ende dann eher der Geruch, die Farbe, der Klang des Motors, der dynamische Kühlergrill, die gelungenen Rundungen am Heck….oder? Dies ist nur e i n Beispiel, wenn Sie wollen, zum Schmunzeln.
Aber im Ernst: Wir brauchen eine Schule der Emotionen! Wenn wir nicht zum Spielball derer werden wollen, die virtuos auf der Klaviatur unserer Gefühle spielen und herum manipulieren. In einer Welt, in der alles – jedenfalls viel zu viel – vorgezeichnet ist, in der die Gefühls- und Wahrnehmungswelt durch Nichtgebrauch verkümmert, in einer Welt, wo die Grenzen zwischen echt und virtuell oft zu verschwimmen drohen - im Extremfall bis zur Verwechslung zwischen Ballern im Computerspiel und Machtspielchen mit der Knarre aus Papas Waffenschrank -, in einer Welt, in der die Geschmacksnerven durch künstliche Aromastoffe, Geschmacksverstärker und Süßungsmittel lahmgelegt sind, in der selbst auf Fernreisen das Interesse für das Fremde - ob für Religion oder Geschmack - gegen Null oder gegen McDonald geht,… in einer solchen Zeit wird es Zeit, eine Wahrnehmungsfähigkeit und eine Wahrnehmungsfreude wiederzuentdecken, die uns vor allem die Musik beschert! Denn hier riecht Holz wie Holz und klingt beim Musizieren wie Holz und fühlt sich auch so an. Fell fühlt sich an und klingt wie Fell. Lautstärke hat viel mit Stärke zu tun, körperliches Austoben ermöglicht oft geistige und emotionale Entspannung, geistig gespannt zu sein, ermöglicht, körperlich loslassen zu können. Also: Wahrnehmung ist wichtig, Freude und Genuss an der Wahrnehmung ist noch wichtiger und: der eigenen Wahrnehmung trauen zu lernen, ist das allerwichtigste!
Denn dies bedeutet selbständig zu sein, nicht manipulierbar, emanzipiert, dies ermöglicht, ein mündiger Staatsbürger zu sein, gesund zu sein. Ist das nicht wichtig, ist das nicht schön? Auch dafür wünsche ich uns Anerkennung, Erfolg, Gänsehaut und Vertrauen in die Zukunft.
Studienplätze! Wertschätzung! Stellen!
![]() Zustimmender Applaus: Das Publikum nach der Rede von Prof. Ulricher Rademacher Zum Schluss eine Selbstverpflichtung, welche der VdM und der Deutsche Musikrat sehr ernst nehmen: Entscheidend ist, dass wir Bund, Länder und Kommunen überzeugen müssen, den Absolventen der Musikhochschulen menschenwürdige, wertschätzende und attraktive Arbeitsplätze zu bieten. Sonst können wir unseren Strukturplan, das Positionspapier der kommunalen Spitzenverbände und das KGSt Gutachten und manches andere schöne Papier „in die Tonne kloppen“ wie man bei uns im Rheinland sagt. Aber Sie wissen ja: Wir Musiker haben einen langen Atem. Das haben wir geübt! Wir wissen, dass sich die Langstrecke lohnt, dass der Gang „ad Parnassum“ oder „zum Olymp“ zwar Kraft kostet, aber belohnt wird. Zeigen wir der Politik, was öffentliche Förderung möglich machen kann, was wir spürbar mit angestellten Lehrkräften besser können, als mit freien Mitarbeitern, und scheuen wir uns nicht, der Politik zu sagen, was sie von uns wollen soll. – Und, was das kostet. Und das Hand in Hand in Kommunen, Ländern und im Bund.
Studienplätze! Wertschätzung! Stellen! - Das ist anspruchsvoll, aber gemeinsam zu schaffen! Trotz Zukunftssorgen, trotz Fortbildungsnotstand, trotz teilweise widriger Rahmenbedingungen in der Kooperation mit den allgemein bildenden Schulen, trotz immer neuer Erwartungshaltungen unserer Träger: Was gibt es schöneres als mit Menschen und Musik zu arbeiten! Das sage ich mir ab und zu, wenn ich meinen Blues habe. Also: in diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute, fruchtbare und kommunikative Zeit hier in Erfurt und danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Prof. Ulrich Rademacher, 12. April 2014 in Erfurt
www.thueringer-musikschulen.de |