Willkommen in den Musikschulen:
Engagement für Geflüchtete

Wir brauchen einen langen Atem

Ulrich Rademacher im Gespräch über die Flüchtlingsarbeit öffentlicher Musikschulen

Im November 2015 bezog Ulrich Rademacher, Vorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen (VdM) Position zum Thema „Flüchtlingspolitik“ der öffentlichen Musikschulen: Die öffentlichen Musikschulen im VdM machen Ernst mit Ihrem Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt, wie es in der Potsdamer Erklärung zur Inklusion und im Musikschulkongress im Mai 2015 immer wieder bekräftigt wurde, schon lange bevor Dimension und Brisanz dieser Herausforderung so greifbar waren wie heute.

 

Eine Blitzumfrage Mitte Oktober, an der sich über 200 Musikschulen beteiligten, offenbarte, wie schnell und kreativ die Schulen vor Ort reagieren. Es gibt Initiativen, die Musikschulen mit eigenen Ideen und aus eigener Kraft umsetzen. Bei den meisten handelt es sich jedoch um Bündnisse mit Partnern der Kommune oder zum Beispiel aus Kirchen und Wohlfahrtsverbänden. Im VdM-Projektbüro „Bündnisse für Bildung“ gehen laufend neue Anträge ein, die aufgrund der gebotenen Eile binnen acht Wochen im Umlaufverfahren von der Jury bearbeitet werden. Nicht zu vergessen das große Spektrum der „Standardangebote“ von Musikschulen wie Instrumental- und Vokalunterricht im Einzel- und Gruppenunterricht, Ensembles aller Stile und Genres, Eltern-Kind-Gruppen und vieles mehr, das gebührenfrei oder reduziert auch geflüchteten Menschen offensteht. Aus allen Projekten spricht eine große Sensibilität für den Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen. Wir wissen aber, wie wenig wir von denen wissen, denen wir etwas anbieten wollen. Wir wissen, wie sehr wir auf gute Zusammenarbeit mit Partnern angewiesen sind. Und wir ahnen vielleicht, wie unsere Kultur jung und reich werden kann durch das, was die Geflüchteten mitbringen. Im Januar 2016 führte die nmz ein Gespräch mit Ulrich Rademacher zum gleichen Thema.

 

neue musikzeitung: Bei den Antworten auf die Umfrage des VdM unter seinen Mitgliedschulen fällt auf: Manche Musikschulen sind sofort gestartet und haben Projekte initiiert. Andere verhalten sich zunächst abwartend und sagen: Wir brauchen erst einmal Mittel, wir müssen das in eine Struktur einbinden, wir brauchen Genehmigungen et cetera. Stimmt der Eindruck?

 

Ulrich Rademacher: Ja, das stimmt, und ich habe Verständnis für beide Einstellungen. Auf der einen Seite für diesen Instinkt, sofort zu reagieren, bevor Geld, bevor Konzepte da sind. Dass man trotzdem in einem solchen Fall tätig wird, kann so falsch nicht sein. Es ist jedenfalls besser als abzuwarten und auf Zuständigkeiten zu verweisen. Ich habe im Übrigen gro-ßen Respekt vor der Spontaneität und vor der Schnelligkeit, mit der der Sport reagiert hat. Ich meine, davon können wir uns eine Scheibe abschneiden.

Ich kann aber auch die Musikschulen verstehen, die zunächst einmal nach Geld und Konzepten rufen. Das hat sicher mit den schlechten Erfahrungen mit Bund, Ländern und Gemeinden zu tun, die die Musikschulen in der Vergangenheit gemacht haben. Denn immer wieder kommen neue Aufgaben auf sie zu und Anforderungen, ihre Angebote auszuweiten. Und bei kaum einer neuen Aufgabe, die die Musikschulen – politisch ausdrücklich gewollt – übernommen haben, ist am Ende Geld geflossen. Das hat viele Musikschulen wirtschaftlich, organisatorisch und in Sachen Personalführung oft an den Rand der Verzweiflung gebracht, so dass viele Kollegen jetzt gedacht haben: Nicht auch das noch! Das heißt für uns als Verband, dass wir uns schleunigst um die Rahmenbedingungen kümmern müssen, die die Musikschulen vor Ort brauchen, um sich unterstützt zu fühlen.

 

Das Werkzeug Musik

nmz: Was konkret können die Musikschulen denn leisten?

 

Rademacher: Es liegt doch auf der Hand, dass man mit Musik das richtige Werkzeug hat, um gleichzeitig mehrere Aspekte abzudecken. Mit Musik kann man non-verbal kommunizieren. Auf der anderen Seite dient Musik wunderbar dem Spracherwerb. Das ist doch eines der wichtigsten Themen für geflohene Menschen. Musik dient also der Kommunikation, aber auch dem, worüber jetzt so viel debattiert wird: Verstehen, Akzeptanz und Einhaltung von Regeln, aber auch der Erfahrung, gemeinsam etwas zu tun, das koordiniert werden muss. Auch das kann man mit Musik üben.

Und man kann sich voneinander erzählen. Ich finde, es gibt geradezu eine Erotik des Andersseins. Ich stelle mir vor, dass unsere Kultur reicher wird, indem alle Herkünfte der Geflohenen einbezogen werden und sich auch ausleben können. Wohl verstanden unter der Voraussetzung des engagierten Erwerbs der Deutschen Sprache und der Zustimmung zu unserem Grundgesetz.

 

nmz: Was brauchen die Musikschulen, um diese Aufgaben zu erfüllen?

 

Rademacher: Sie brauchen die langfristige Perspektive, Dinge, die sie angefangen haben, auch zu Ende bringen zu können, also mehr als nur eine Projektunterstützung. Nicht nach dem Motto: Hier habt Ihr einmalig Geld, macht mal was damit und lasst uns Politiker gut damit aussehen. Denn wenn der innovative Charme einmal abgefeiert ist, ist das Projekt oft nicht mehr so interessant. Dann hat sich die Verantwortung der Musikschule zwar vergrößert, aber die dafür nötigen Ressourcen sind eben nicht vorhanden. Wir bräuchten zumindest die Perspektive, Dinge, die gut laufen, später auch in ein nachhaltiges Angebot umwandeln zu können.

Ein erster Schritt ist die jetzt geschaffene Möglichkeit, über die Bündnisse für Bildung einen Sonderfonds für Geflüchtete anzulegen. Das Kriterium „Bildungsferne“ kann also ohne weitere Prüfung auf Geflüchtete angewendet werden. Damit hat man eine Perspektive, zumindest über mehrere Jahre etwas entwickeln zu können. Dabei reden wir allerdings über eine Bundesverantwortung. Die Länder und Kommunen müssen sich natürlich auch engagieren – ganz schlicht und einfach mit der Perspektive, Stellen zu schaffen. Das passiert ja auch in vielen anderen kommunalen Bereichen, die mit Geflüchteten zu tun haben, allen voran in den Sozialämtern. Da ist es selbstverständlich, dass das nur über Stellen geht.

 

nmz: In den Ämtern, aber nicht in den Musikschulen …

 

Rademacher: Genau, nicht in den Bildungseinrichtungen. Es gibt ja einiges, das wir auch ohne neues Personal tun können. Aber dann muss uns zumindest zugestanden werden, dass wir Einnahmeausfälle haben. Für alles, was wir Geflüchteten in den allgemeinbildenden Schulen anbieten, gilt das Gleiche wie bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung: Da braucht man einfach mehr Personal. Und man nimmt Leute auf, von denen man nicht weiß, ob sie in den nächsten drei Jahren Gebühren werden zahlen können. Das zieht dann Einnahmeausfälle nach sich, und wenigstens diese müssen den Musikschulen ausgeglichen werden.

 

nmz: Langfristige Planung, Stellen, finanzielle Mittel sind das eine. Was brauchen die Musikschulen denn noch für die Arbeit mit Geflüchteten? Wie kommen sie an Ideen, an das Wissen, was nottut, was gut ist für die Geflüchteten? Wie kommen sie überhaupt zusammen?

 

Rademacher: Es gibt ja kommunale Einrichtungen, meistens sind das die Sozialämter, die von der Erstaufnahme her die besten Kontakte haben. Dann gibt es noch die Kulturvereine der Herkunftsländer, an die sich die Geflüchteten auch wenden können. Eine Initiative, die der Deutsche Musikrat auf Bundesebene gestartet hat, ist, dass wir die Professionen der Flüch-tenden erfragen. Wir könnten mit Tablaspielern, mit Oudspielern, mit Baglamaspielern und anderen Profis aus den Herkunftsländern zusammenarbeiten, wenn wir sie denn identifizieren könnten. Ich habe jetzt schon eine Bewerbung in der Musikschule von einem Menschen aus Ägypten. Er spielt ein Instrument, das ich noch nicht identifiziert habe. Da kann ich jetzt natürlich die ganze Maschinerie anlaufen lassen, Zeugnisse übersetzen lassen und fragen: Was hast Du gelernt? Gibt es eine staatliche Prüfung? Oder ich sage einfach: Beschreib mal dein Instrument. Was hast du bisher gemacht? Mit wem hast Du gearbeitet? Spiel mir mal etwas vor! Ich bringe dich mit Landsleuten zusammen, und ihr probiert aus, was geht.

 

nmz: Es ist doch vielleicht für die Musikschulen gar nicht so einfach, auf die Menschen zuzugehen. Es gibt eine Sprachbarriere, sie begegnen anderen Kulturen, von denen wir noch gar nicht viel wissen. Wird man da als Lehrer ins kalte Wasser geworfen?

 

Rademacher: Sehr viele Kinder erreichen wir inzwischen in den Schulen. In NRW haben wir zum Beispiel in einem Drittel der Grundschulen das Programm JeKits, an dem – hoffentlich – die Kinder von Geflüchteten teilnehmen. In den Schulen gibt es Sozialarbeiter und Erzieher, die die Lehrer unterstützen. Die haben das knowhow und können auch die Musiklehrkräfte unterstützen.

Wenn sich Menschen bei meiner Musikschule in Münster melden, die in ihrer Heimat eine Ausbildung angefangen und durch die Flucht unterbrochen haben, dann können sie bei uns weitermachen. Ob und wann sie zahlen, wird man sehen. Wir haben durchaus schon Schüler auch für den Einzelunterricht aufgenommen.

 

nmz: Sie haben auch über den Spracherwerb durch Musik gesprochen …

 

Rademacher: Für Asylbewerber und anerkannte Asylanten gibt es ja von Anfang an Deutschkurse. Das sind oft dreistündige Vormittagsveranstaltungen. Wenn man diese Kurse durch ein 20-minütiges Singen unterbricht, dann bewirkt das, dass nicht immer nur der Kopf gefordert ist, sondern dass man sich bewegt, atmet und singt. Und wenn man dann auch noch Texte von deutschen Liedern mitlernt und andererseits zwischendurch mal ein Lied singen kann, das man mitgebracht hat, lernt man, dass Musik die eigene Identität prägen kann, und gleichzeitig wird der Spracherwerb für die neue Sprache gefördert.

 

Konkrete Planungen

nmz: Sie sind selbst Leiter einer gro-ßen Musikschule. Was ist in Münster konkret geplant? 

 

Rademacher: Zum Beispiel ein Mit-Trommel-Projekt. Wir haben so etwas einmal für die allgemeinbildenden Schulen im offenen Ganztag entwickelt mit einem Musiker, der vom afrikanischen Trommeln herkommt und mit einer Call-and-Response Methode die Menschen zum Trommeln bringt. Das ist natürlich ein tolles Projekt auch für Menschen, die noch nicht die Sprache können, die aber trotzdem einen gemeinsamen Rhythmus finden wollen.

Ein weiteres Projekt, das ich für Münster plane, ist ein offenes Singen oder offenes Musizieren. Da sollen verschiedene Kulturen zusammenkommen und miteinander Musik machen. Dafür braucht man natürlich „Zutaten“. Auch hier könnte der Trommler mitwirken. Außerdem habe ich einen interkulturellen arabischen Frauenchor aus Wuppertal angefragt, von dem mir eine ehemalige Studentin berichtete. Dazu das interkulturelle Ensemble der Musikschule Hürth, einen deutschen Kinderchor unserer Schule und schließlich ein paar kreative Allrounder, die etwa mit Cajon, Gitarre, E-Bass und Keyboard intuitiv begleiten können. Dadurch lässt sich auch herausfinden, wer überhaupt interessiert ist an Musik.

 

nmz: Sie sprechen viel von Interkultur. Unter den Projekten, die im Rahmen der VdM-Umfrage beschrieben werden, finden sich eher Projekte, bei denen die Geflüchteten in unsere Kultur integriert werden sollen. Da geht es längst nicht immer um den Austausch.

 

Rademacher: Das ist mir aber ein großes Anliegen. Das geht allerdings nur, wenn man Gefühl und Stolz der Menschen nicht verletzt. Wir sollten immer nachfragen: Was bringt Ihr denn mit? Integration hat ja nichts mit Gehirnwäsche zu tun oder damit, das wegzuwerfen, wo man herkommt. Das kann nicht gesund sein.

nmz: Was konkret kann der VdM tun?

 

Rademacher: Der Verband kann den Ideenaustausch transportieren und gut funktionierende Projekte mit Geflüchteten allen zugänglich machen – zum Beispiel mit Hilfe der Umfrage, die wir gerade gemacht haben. Eine andere Verbandsaufgabe ist es, Hindernisse wie zum Beispiel das Kooperationsverbot abzubauen; oder den Kommunen, den Ländern, dem Bund zu sagen: Wir können viel, wenn Ihr uns lasst und wenn Ihr uns unterstützt. Wir können unser knowhow einbringen, aber dafür brauchen wir Ressourcen.

Eine erste konkrete Initiative war es, die Bündnisse für Bildung zu öffnen. Wir arbeiten in der Flüchtlingsfrage auch mit dem MIZ zusammen. Unser Bundesgeschäftsführer Matthias Pannes und ich haben vor kurzem sowohl im Kulturausschuss als auch im Bildungsausschuss des Deutschen Stä-dtetages über kulturelle Bildung und Musikschulen gesprochen. Da spielte das Thema Geflüchtete auch eine große Rolle. Davon kommt in den Kommunen dann wieder viel an.

 

nmz: In einer Antwort auf die VdM-Umfrage wurde berichtet, dass der Musikschule von Trägerseite praktisch alle Vorhaben und Ideen verboten wurden. Das Argument lautete: Die Geflüchteten dürfen auf keinen Fall besser gestellt werden als Harz IV-Empfänger.

 

Rademacher: Es ist ja selbstverständlich, dass man versucht, keine neuen Ungerechtigkeiten zu schaffen, keine zerstörerischen Neid-Debatten zu provozieren. Aber es muss auch einmal möglich sein, für die Bewältigung einer neuen und dringenden Aufgabe das Gewicht kurzfristig zu verlagern. Musikschulleitungen haben natürlich einerseits die Aufgabe, der Öffentlichkeit klar zu machen, wo dringender Bedarf ist und wofür unbedingt neue Ressourcen benötigt werden. Andererseits gehört es zu deren Aufgaben aber auch, Prioritäten zu setzen und die vorhandenen Ressourcen unter Umständen auch einmal umzuverteilen und zu sagen: Obwohl wir sowieso zu wenig Geld haben, gibt es gerade jetzt Aufgaben, die noch wichtiger sind als anderes. Mit allen Gefahren, die dazu gehören: Wenn die Kommunen sich nachher „ins Fäustchen lachen“ und sagen: „Geht doch! Wir haben nicht mehr Geld gegeben, und Ihr habt es trotzdem geschafft“, dann ist das natürlich frustrierend.

 

nmz: Gibt es schon Erfahrungsberichte, wie die Projekte angenommen werden?

 

Rademacher: Das ganze Thema ist ja noch sehr frisch; es gibt derzeit keine aussagekräftigen Informationen dazu. Ich kenne aus meinem Umfeld auch Beispiele, bei denen mit viel gutem Willen und viel Phantasie ein Angebot formuliert worden ist, und die Resonanz war gleich Null. Aber daraus zu schließen, dass das gar nicht gewollt ist, fände ich falsch. Ich glaube, dass man in solchen Situationen Vieles versuchen muss, ehe etwas funktioniert. Hier brauchen wir einen langen Atem!

Irgendwann einmal wird sich die Aufregung um das Flüchtlingsthema legen. Dann haben wir ganz normale Mitbürger, die aber trotzdem vielleicht noch schlecht Deutsch können, die möglicherweise eine normale Musikschulausbildung nicht bezahlen können. Euphorie auf der einen Seite und Katastrophenstimmung auf der anderen Seite werden irgendwann auch vorbei sein. Dann ist unsere Professionalität mindestens so gefragt wie jetzt, wo die Spontan-Reagierenden ganz weit vorne sind.

 

Quelle: nmz (neue musikzeitung) 2/2016

 

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